Laudation für Stanley Keleman
Dr. Irène Kummer

Berlin 2007

 

1.) Einleitung

Sehr verehrte Anwesende,

Es ist mir eine Freude und Ehre, einen kurzen Einblick in das Werk von Stanley Keleman zu geben. Sein lebenslanges Interesse für die Zusammenhänge zwischen der sich wandelnden Gestalt des Körpers und dem menschlichen Verhalten führte ihn zur Entwicklung der Formativen Psychologie®, die sein eigentliches Lebenswerk ist.

Ein Lebenswerk wie das seinige gründet in dem, was Martin Buber das „Geheimnis der Person“ genannt hat. Es umfasst alle Schichten eines privat und beruflich geformten Lebens. Der Reichtum seines beruflichen Schaffens weistviele Schichten auf, die in ständigem Dialog miteinander sind -  als unentwegter Forscher, als Autor vieler grundlegender Bücher, Artikel, Videos und Übungsfolgen, als Kliniker, als Lehrer in Workshops auf verschiedenen Kontinenten, als freigebiger Mentor für seine Schüler. Wissenschaftliche Genauigkeit und künstlerische Gestaltung ergänzen einander. Dieser Vielfalt teilhaftig zu sein, hat mich als Person und Berufsfrau wachsen lassen. Ich bin dabei sicher, auch im Namen meiner Kollegen zu sprechen.

Da ich ein Lebenswerk nicht in so kurzer Zeit gleichsam ‚abhandeln‘ kann, möchte ich das, was mir wichtig geworden ist, in einer Art „Brief“ an Stanley Keleman zum Ausdruck bringen:

 

2.) Anatomie ist Verhalten

Lieber Stanley,

Die Vielfalt und der Reichtum deines Werkes hatte von Anfang an eine formative Wirkung auf mich.

Mich beeindruckt, dass Du eineTheorie und Methode entwickelt hast, die konsequent in der Biologie und Anatomie verankert ist. Du betonst, dass alles Lebendige eine Suborganisation der Biosphäre ist und in sich einen Hunger nach   Form trägt, der bis in die zellulären und molekulären Ebenen reicht. Auf all diesen Ebenen werden entlang dem pulsatorischen Kontinuum sich wandelnde Strukturen gebildet, - Morphogenese und Metamorphose als evolutionärer Prozess. Was du auf dieser Basis immer und immer wieder lehrst und worauf deine Wie-Methode gründet, hast Du auf den Punkt gebracht: 

„anatomy is behavior and behavior is anatomical structure; all human functions, cognitive and emotional expressions, are body acts.“

Verhalten ist die Basis des menschlichen Formungsprozesses in all seinen Aspekten. Dies gehört zum Kern der Formativen Psychologie™. Hiess es bei Descartes „ich denke, also bin ich“ und später „ich fühle, also bin ich“ sagst Du: „I am an anatomical organisation, and therefore I am“. Und dies meint auch:
Ich verhalte mich, also bin ich.“ 

Deshalb sind alle menschlichen Funktionen, sind Denken und emotionaler Ausdruck leibhaftes, körperliches Tun. Damit hast du wichtige Fragen der traditionellen Philosophie auf eine neue Basis gestellt:   die der Anatomie.   Doch es erfordert nicht nur ein‚ Umdenken‘, keine Anleihen mehr an die überlieferten Konzepte zu machen. Ausgangspunkt ist in der formativen Arbeit nicht, was wir denken oder fühlen sondern was wir tun, genauer noch wie  wir es mit unserem Körper tun. Dies ist ein Paradigmenwechsel.


3.) Selbstregulation

Ein wichtiges Schlüsselwort in deinem Konzept ist deshalb Selbstregulation -  zunächst eine angeborene und damitunwillkürliche Funktion, die allem Lebendigen gegeben ist. Das bedeutet für uns Menschen: Wir haben einen genetisch gegebenen Körper, angeborene Verhaltensweisen, von denen wir gleichsam gelebt werden. Doch durch willentlichen muskuär-cortikalen Einsatz - ein anderer Schlüsselbegriff - können wir uns selbst beeinflussen. Diese natürliche Funktion greifst du auf mit der Entwicklung der Wie-Methode der fünf Schritte.

Ein persönliches Beispiel: Ich sage beispielsweise: „Ich bin unsicher“, und du fragst: „Wie organisierst du das muskulär? Dann kann ich das, was ich machebeeinflussen, es verlangsamen und schrittweise intensivieren und abbauen, Du hast in deinem Buch „Forme dein Selbst“ dargelegt, wie wirunser Verhalten differenzieren und Schichten bilden können, die durch Wiederholung, durch Üben verfügbar und im täglichen Leben einsetzbar sind. Wir bekommen so eine Wahl in Bezug auf unser Verhalten. So bilden wir ein erweiterbares Verhaltensrepertoire, das einen Dialog zwischen Körper und Gehirn, zwischen Gehirn und Körper darstellt. Doch dadurch, dass wir im angeborenen Verhalten neue Verhaltensschichten bilden, machen wir es persönlich. Du hast gezeigt, was es bedeutet, zu sich selbst regulierenden und selbstformenden einmaligen Personen zu werden. Damit ist ein Wachstumsprozess gemeint, der ein lebenslanges commitment bedeutet. - als privater Mensch und als Berufsfrau. 

Deshalb ist ein anderes zentrales Thema dasjenige, wie wir Übergänge formen, das Du in den letzten Jahren weiter differenziert hast. 


4.) Die Ebene von Beziehungen

Mit diesen Aspekten ist verbunden, wie wir einen intra- und interpersonellen Dialog formen. Dazu hast du zwei Bücher geschrieben- „Der körperliche Dialog in der therapeutischen Beziehung“ und „Formen der Liebe“, in denen Du ein Konzept von Beziehungsstadien- und ebenen entwickelt hast. Eine wichtige Frage lautet: Wie bin ich präsent - in der Beziehung zu mir und zu andern? Wie organisiere ich diese Präsenz somatisch-emotional, wie empfange ich mein Gegenüber im Sinne von „DaSein ist MitSein“?  Auch die therapeutische Beziehung hat einen formativen Focus, der sich beispielsweise in einer für mich als Therapeutin wichtigen Frage kristallisiert: „Als wen braucht mich mein Gegenüber, um seinen nächsten Schritt in seinem Formungsprozess zu tun? Unter formativem Gesichtspunkt In diesem Zusammenhang hast Du auch die Grundlagen für ein somatisch begründetes Verständnis von Paarbeziehungen und ihrer Formungsstadien sowie von familiären Beziehungen innerhalb des ‚Familienkörpers‘  geschaffen. 


5.) somativ-emotional education und Therapie

In diesem Kontext hast du auch die Position der formativen Arbeit neu definiert: Sie ist eine umfassende somatic-emotional education/ Erziehung oder Bildung.  Therapeutisch -klinische Arbeit ist ein Aspekt dieser Arbeit. Doch Du hast wichtige Konzepte für den Umgang mit Verletzungsmustern entwickelt, ebenfalls auf streng anatomischer Basis: so das Konzept der Stressmuster (patterns of distress) und damit der Behandlung stressbedingter Erkrankungen, der Somatypen, des Kontinuums von Panik und Depression und weiterer Störungen.(Du bist ein Lehrer, der den somatisch-emotionalen Prozess begleitet und gleichzeitig ein erfahrener Kliniker.)


6.) Reife versus Altern

Ineiner Zeit, in der Alter aus demographischen Gründen ein neues Thema wird, hast Du ein weiteres zentrales Konzept entwickelt, das ebenfalls konsequent anatomisch begründet ist: das Konzept der Lebensphasen und vor allem der Reifephase. Wir alle, die in den 90iger Jahren mit dir gearbeitet haben, folgten deiner Gestaltung und Vertiefung. 

Du hast eine differenzierte Typologie der verschiedenen Lebensphasen entwickelt, die uns auch die späten Phasen des Lebens begehrenswert macht, falls wir bereit sind, uns nicht dem Altern zu überlassen oder uns gegen es zu wehren sondern die biologischen Angebote aufzunehmen und unseren Reifeprozess auf dieser Basis leibhaft zu formen. 


7.) Arbeit mit Träumen

Du hast auch die Arbeit mit Träumen von der Interpretation von Symbolen weggeholt und für willentlichen muskulär-kortikalen Einsatz fruchtbar gemacht. Träume als motile Gebilde verflüchtigen sich - doch durch Wieder-Einkörpern der Traumfiguren und durch Differenzierung ihres Verhaltens in unserer Verkörperung können wir ihnen Dauer verleihen und die neu gebildeten Schichten ebenfalls in unserem Repertor und damit in unserem Leben einsetzen. 


8.) Die Arbeit mit Mythen

Als letztes möchte ich eine weitere Dimension ansprechen, die für mich persönlich sehr inspirierend ist. Träume sind eine Art somatischer Mythen, und Mythen sind eine Art von Träumen. 

„Myth is a script for bodying, for action, for creating an inner cathedral a somatic self. Literature also is a pattern of embodiement.

Mythen - kollektive und persönliche - sind so wenig wie Träume für die Interpreten da. Sie sind Ausdruck des Soma:

„The Soma and its expressions are twins.“

Sie wollen gebraucht werden, indem wir somatisch mit ihnen arbeiten - wie mit Träumen. Dieses Konzept könnte auch das Verständnis von Kunst und den Umgang mit ihr auf eine neue Basis stellen, wie du es in deinem Buch „Myth and the body“ und in Deinen Artikeln gezeigt hast. 


9.) Formative Sprache

Du hast jedoch nicht nur ein Konzept zum Umgang mit Literatur geschaffen - du bist selbst ein wissenschaftlicher Künstler und ein künstlerischer Wissenschafter. Du hast eine eigene konsequent formative Sprache geschaffen, indem du die herkömmlichen philosophisch-psychologischen Kategorien verlassen hast. 

Dein Lehren ist ein kunstvolles Ineinandergreifen von Theorie und praktischer Arbeit. 


Dank

Es bleibt mir nur, dir zu danken. Mein Leben und meine Arbeit sind von deinem Lebenswerk durchformt - doch das Wichtigste ist: du hast mich gelehrt, was es heisst, formativ zu leben und zu arbeiten. Und ich bin mir sicher, dass ich auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen spreche.

 

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